Einblicke in die Entwicklungsgeschichte der Tiefseeasseln
NATURE berichtet über Expeditions-Ergebnisse
Bochum, 16.05.2007 - In der unwirtlichen, eiskalten und finsteren Tiefsee in der Nähe des Südpols hatte man wenig oder gar
kein Leben vermutet. Bei drei Expeditionen des Forschungsschiffs "Polarstern" 2002 und 2005 wurden die Forscher dann
mit einer enormen Artenvielfalt überrascht. Diese Fülle konnten sie nun erstmals systematisch erfassen und Organismen auf ihre
Evolutionsgeschichte und ihre Verbreitungsmuster untersuchen. So zeigte sich z.B., dass in antarktischen Gewässern bestimmte
Tiefsee-Arten auch im flachen Wasser leben und umgekehrt. Für die Asellota, eine Untergruppe der Asseln, konnte der Bochumer
Forscher Dr. Michael Raupach (Lehrstuhl für Evolutionsökologie und Biodiversität der Tiere) eine detaillierte
Familiengeschichte aufstellen. Über ihre Ergebnisse berichten die Forscher in der aktuellen Ausgabe von Nature.
Bizarre Formen beeindrucken
Die Tiefsee ist der mit Abstand größte Lebensraum der Erde; fast 80 Prozent des Meeresbodens liegen tiefer als 3000 Meter.
Lange Zeit ging man davon aus, dass die Tiefsee weitgehend verödet sei, doch trotz widrigster Umweltbedingungen - Finsternis,
Wassertemperaturen nahe dem Gefrierpunkt, Nahrungsknappheit, hoher Druck - findet sich in den Tiefen der Weltmeere eine Fülle
bizarr anmutender Organismen wie beispielsweise Anglerfische oder Riesenkalmare. Insbesondere der Tiefseeboden galt lange Zeit
als sehr artenarm. Erste umfangreiche Untersuchungen am Kontinentalhang der Ostküste der USA in 2000 bis 3000 Metern Tiefe
zeigten, dass dieses Bild täuscht: Tatsächlich findet sich eine Vielzahl wenn auch oft nur wenige Millimeter großer Tiere wie
Kammerlinge (Foraminiferen), Fadenwürmer (Nematoden), Borstenwürmer (Polychaeten), Muscheln (Bivalven), Seegurken
(Holothurien), Schlangensterne (Ophiuroiden), Flohkrebse (Amphipoden) und Asseln (Isopoden) im Tiefseeschlamm. Unter den Asseln
gelten die Asellota weltweit als eines der bedeutendsten Elemente der Tiefsee und beeindrucken mit einer unglaublichen Arten-
und Formenvielfalt: Einige Formen sind extrem lang gestreckt, andere bizarr bedornt, gelappt oder kompakt und muskulös gebaut.
Leben in verschiedenen Tiefen
Über die Biologie dieser Tiere war so gut wie nichts bekannt: Die Tiefsee-Fauna der Antarktis ist
bisher kaum untersucht worden. "Bemerkenswert ist, dass viele Flachwasserarten in antarktischen Tiefgewässern gefunden
werden, aber auch viele typische Tiefseegattungen im antarktischen Flachwasser zu finden sind", erklärt Dr. Raupach.
"Die Ursache dafür liegt vermutlich in der niedrigen Wassertemperatur sowohl der Tiefsee als auch des Oberflächenwassers,
was temperatursensitiven Tieren eine entsprechende Verbreitung in beiden Tiefen ermöglicht." Dies gilt auch für die
Asellota, die sich auf Grund ihres Arten- und Individuenreichtums für molekulargenetische Untersuchungen der Verbreitung,
Evolutionsgeschichte, Populationsstruktur und Artbildung anbieten.
Proben aus 6000 Metern Tiefe
Im Rahmen der drei mehrmonatigen ANDEEP-Expeditionen (Antarctic benthic deep-sea biodiversity,
Bestandteil der internationalen Initiative Census of the Diversity of Abyssal Marine Life "CeDAMar"), organisiert von
Prof. Angelika Brandt und Dr. Brigitte Ebbe, machte sich in den Jahren 2002 und 2005 ein internationales Biologenteam erstmals
an eine systematische Erfassung der antarktischen Tiefseefauna. Die Forscher nahmen von Bord des deutschen Forschungseisbrechers
"Polarstern" unter Koordination des Alfred Wegener Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) Proben aus dem
antarktischen Meeresboden in bis zu 6000 Metern Tiefe. Dabei kamen unterschiedlichste Fanggeräte wie Kastengreifer,
Epibenthosschlitten oder Mehrkernbohrer zum Einsatz. Ein Schwerpunkt der Probennahme war die Tiefseeebene der Weddell See.
Artenzahl wurde bislang unterschätzt
"Neben der Entdeckung einer Vielzahl bis dato unbekannter Arten und wichtigen neuen Erkenntnissen
zur Biogeographie verschiedenster Organismen konnten wir während dieser Expeditionen zum ersten Mal Asellota der Tiefsee für
molekulargenetische Untersuchungen fangen", erzählt Dr. Raupach. Die Forscher nahmen mitochondriale und nukleare Gene
unter die Lupe, um Rückschlüsse auf die Evolutionsgeschichte und die Populationsstruktur ziehen zu können. Die große
Formenvielfalt der Asellota, besonders innerhalb der Tiefseefamilien, ermöglichte bislang kaum verlässliche
Verwandtschaftshypothesen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Besiedlung der Tiefsee in mehreren Gruppen unabhängig und vermutlich
zu unterschiedlichen Zeitpunkten voneinander stattfand. "Bemerkenswert ist eine morphologisch hyperdiverse Gruppierung, in
der sich die Mesosignidae, Macrostylidae, Janirellidae, Ischnomesidae, Desmosomatidae, Nannoniscidae und Munnopsidae
zusammenfassen", erklärt Dr. Raupach. Weitere molekulare Ergebnisse bestätigen eine hohe genetische Variabilität
innerhalb morphologisch sehr ähnlicher Arten und die Existenz so genannter kryptischer Arten: Arten, die sich zwar
morphologisch nicht unterscheiden, genetisch aber unterschiedlich sind. "Dies ist von entscheidender Bedeutung für die
Biodiversitätsforschung in der Tiefsee, da es zeigt, dass die Artenzahl der Asellota und auch anderer Gruppen bislang
unterschätzt wurde", so Dr. Raupach.
Titelaufnahme
Angelika Brandt et al.: First insights into the biodiversity and biogeography of the Southern Ocean deep
sea. In: Nature, Volume 447, Number 7142, 17. Mai 2007
Quelle im Internet und weitere Informationen unter: www.ruhr-uni-bochum.de
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