Auf der Suche nach den molekularen Ursachen der Erbkrankheit Retinitis pigmentosa
Etwa 30.000 Menschen in Deutschland leiden an der Retinitis pigmentosa, einer Erbkrankheit, bei der
sich die Augennetzhaut allmählich verändert - bis die Betroffenen schließlich erblinden. Wissenschaftler am
Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen haben die Krankheit jetzt mit einem wichtigen molekularen
Mechanismus in Verbindung gebracht: Bei den Patienten können bestimmte Proteinmoleküle so in ihrer Struktur verändert sein,
dass sie nicht mehr zu anderen Proteinen passen und damit wichtige zelluläre Funktionen nicht mehr wahrnehmen können.
(Molecular Cell, 23. Februar 2007)
23.02.2007 - Retinitis pigmentosa bezeichnet eine Gruppe vererbbarer Krankheiten, die durch eine langsame und fortschreitende
Zerstörung des Netzhautgewebes im Auge charakterisiert sind. Die Erkrankungen führen im fortgeschrittenen Stadium faktisch zur
Erblindung. Das Krankheitsbild tritt im Durchschnitt bei einer von etwa 2500 Personen auf und ist damit eine der häufigsten
Ursachen für den Verlust der Sehfähigkeit. Zur Zeit gibt es weder chirurgische noch medikamentöse Behandlungs-methoden.
Neuere Untersuchungen haben jetzt gezeigt, dass die Krankheit mit Defekten in einem zentralen zellulären Vorgang
zusammenhängt, dem so genannten "prä-mRNA-Spleißen". In höheren Organismen ist die Mehrzahl der Gene auf der DNA
im Zellkern mosaikartig verteilt: Zwischen wichtigen Genabschnitten, die für bestimmte Proteinbereiche kodieren (Exons), liegen
Abschnitte, die keine Protein-kodierende Information tragen (Introns). Daher müssen aus einer "prä-mRNA", der ersten
Abschrift eines Gens, die im Zellkern angefertigt wird, die Introns herausgeschnitten und im gleichen Zuge die Exons zu einer
kontinuierlichen, "reifen" mRNA zusammengefügt werden - ein molekularer Prozess, den man als "Spleißen"
bezeichnet. Diese reife mRNA kann dann aus dem Zellkern ausgeschleust und im Zytoplasma der Zelle als Bauanleitung für die
Produktion von Proteinen verwendet werden. Das prä-mRNA-Spleißen wird von einer komplexen molekularen Maschinerie, dem
Spleißosom, bewerkstelligt, das aus weit über 100 verschiedenen Protein- und RNA-Molekülen zusammengesetzt ist. Gerade bei
Patienten mit verschiedenen Formen von Retinitis pigmentosa sind nun in einer Reihe von Proteinbestandteilen des Spleißosoms
Mutationen, d.h. Veränderungen in der Abfolge der Aminosäurebausteine, gefunden worden.
Das größte Protein im Spleißosom ist das so genannte Prp8. Prp8 unterhält Kontakte mit vielen anderen funktionell wichtigen
Proteinen und RNA-Molekülen der Spleißmaschinerie und wird daher als eine Art Fundament des Spleißosoms angesehen. Bei einer
besonders aggressiven Form der Retinitis pigmentosa, die als RP13 bezeichnet wird, finden sich eine Reihe von Punktmutationen,
also Veränderungen einzelner Aminosäuren, in einer kurzen Region an einem Ende des Prp8-Proteins. In einem gemeinsamen
Forschungsprojekt konnten Wissenschaftler um Dr. Markus Wahl und Prof. Reinhard Lührmann vom Max-Planck-Institut für
biophysikalische Chemie nun die atomare, dreidimensionale Struktur von diesem Teil des Prp8-Proteins mit dem Verfahren der
Röntgenkristallographie aufklären (siehe Abbildung). Zu diesem Zweck wurde zunächst ein Bakterienstamm gentechnisch so
verändert, dass er große Mengen des Proteins hergestellt hat. Aus diesem Material züchteten die Wissenschaftler dann
Kristalle, in denen die Moleküle in allen drei Raumrichtungen regelmäßig angeordnet sind. Diese Kristalle erzeugen bei
Bestrahlung mit Röntgenlicht ein Beugungsbild, aus dem sich die exakte Anordnung der Atome im Kristall berechnen lässt.
Die atomare Struktur des Proteins zeigte, dass alle Aminosäuren, die bei Patienten mit der RP13-Form von Retinitis pigmentosa
verändert sind, in einem ausgedehnten Fortsatz am Ende von Prp8 liegen (siehe Abbildung). Mit einem weiteren gentechnischen
Verfahren testeten die Wissenschaftler die Funktion dieses Fortsatzes. Wenn dieser Proteinbereich komplett entfernt wurde, war
das Andocken von zwei anderen Proteinen des Spleißosoms an den untersuchten Teil von Prp8 unterbunden. Auch wenn einzelne
Aminosäuren in einer Art und Weise verändert wurden, wie es bei Retinitis pigmentosa-Patienten zu beobachten ist, stellten die
Forscher eine Abschwächung dieser Protein-Protein-Interaktionen fest. Diese Ergebnisse belegen, dass der Fortsatz am Ende von
Prp8 als Bindestelle für andere Bausteine des Spleißosoms dient, vergleichbar mit einer Wäscheleine, an der mehrere
Kleidungsstücke aufgehängt werden können. Wenn diese Aufhängevorrichtung wie im Falle von RP13-Patienten defekt ist, ist zu
erwarten, dass die Spleißmaschine nicht reibungslos funktioniert und letztendlich die Produktion eines netzhautspezifischen
Proteins gestört sein könnte.
Die Ergebnisse lassen vermuten, dass das Krankheitsbild der Retinitis pigmentosa mit Störungen im Wechselspiel zwischen
Proteinmolekülen in Zusammenhang steht, die in der Folge zu Fehlfunktionen bei zentralen zellulären Abläufen führen können.
Mit diesen Befunden hält man noch keinen Schlüssel zu einer Therapie in der Hand. Es ist aber zu erwarten, dass derartige
grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse in der Zukunft zu Ideen für eine Heilmethode beitragen.
Originalveröffentlichung:
Vladimir Pena, Sunbin Liu, Janusz M. Bujnicki, Reinhard Lührmann, and Markus C. Wahl: Structure of
a Multipartite Protein-Protein Interaction Domain in Splicing Factor Prp8 and its Link to Retinitis Pigmentosa. Molecular Cell
25, 615-624 (23. February 2007), doi: 10.1016/j.molcel.2007.01.023
Quelle im Internet und weitere Informationen unter: www.mpg.de
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