Feine Partikel sorgen für extreme Steifigkeit
RUB-Materialforscher berichtet in Science
Bochum, 02.02.2007 - Werkstoffe mit extrem hoher Steifigkeit, die schwerer verformbar sind als Diamant, konnte eine
Forschergruppe um Prof. Roderic S. Lakes (University of Wisconsin-Madison) unter Bochumer Beteiligung von Dennis Kochmann
(Lehrstuhl für Allgemeine Mechanik, Ruhr-Universität Bochum) herstellen. Sie betteten dafür feine Partikel mit sog. negativer
Steifigkeit in Zinn ein. Während der Phasenumwandlung der Partikel, die bei einer bestimmten Temperatur eintritt, zeigte der
Verbundwerkstoff eine größere Steifigkeit als Diamant. Die Wissenschaftler wiesen damit experimentell erstmals theoretische
Vorhersagen nach, die seit etwa zehn Jahren postuliert werden. Über ihre Ergebnisse berichten sie in der aktuellen Ausgabe des
Magazins "Science".
Negative Steifigkeit - In der Natur nicht möglich: Bei der Herstellung von
Verbundwerkstoffen gilt normalerweise, dass die Materialeigenschaften des neuen Werkstoffs diejenigen der Ausgangsmaterialien
nicht übertreffen können. Kombiniert man z. B. zwei Werkstoffe unterschiedlicher Steifigkeit, so liegt die Steifigkeit des
Verbundstoffs zwangsweise zwischen den Werten der beiden Ausgangsmaterialien. Der Diamant als steifster Werkstoff in der Natur
stellte somit lange Zeit eine obere Grenze der maximal erzielbaren Steifigkeit dar. Theoretiker sagten aber schon Ende der
90er-Jahre voraus, dass ein besonders steifer Werkstoff entstehen müsste, wenn er einen Anteil eines Stoffs enthält, der sog.
negative Steifigkeit aufweist. "Solche Materialien kommen in Reinform in der Natur nicht vor", erklärt Dennis
Kochmann. "Man kann sich das vorstellen wie einen Ball, der einem Zusammendrücken nicht aufgrund seiner Steifigkeit eine
Kraft entgegensetzt, sondern sich im Gegenteil von selbst weiter zusammenzieht."
Bariumtitanat als Lieferant der negativen Steifigkeit: Als Material mit
negativer Steifigkeit wählten die Forscher Bariumtitanat (BaTiO3). Es durchläuft im Reinzustand bei ca. 120 bis 130°C eine
strukturelle Phasenumwandlung: Das atomare Metallgitter verändert dann seine Struktur von kubischen zu tetragonalen
Elementarzellen. Damit einher geht unter normalen Bedingungen eine Volumen- und Formänderung der Partikel. Ist ein Partikel aus
Bariumtitanat jedoch während dieser Phasenumwandlung geometrisch beschränkt, z. B. fest eingeschlossen in einem anderen,
nicht-umwandelnden Material, so kann diese Umwandlung dazu führen, dass das Teilchen vorübergehend negative Steifigkeit
erlangt. Im aktuellen Fall wurden feine BaTiO3-Partikel (Größenordnung ca. 200 Mikrometer) in einer Matrix aus Zinn
eingeschlossen - die Herstellung erfolgte sowohl pulvermetallurgisch als auch durch Gussverfahren. Durch Veränderung der
Temperatur konnten die Forscher die Phasenumwandlung des Bariumtitanats im Probenkörper hervorrufen. "Sobald die
Phasenumwandlung erfolgt, bewirkt die steife Zinnmatrix die geometrische Beschränkung, die eine negative Steifigkeit in den
Partikeln erlaubt", so Dennis Kochmann. Laut Theorie sollte das zu einem sehr starken Anstieg der Gesamtsteifigkeit des
Verbundwerkstoffes führen. Diesen Effekt konnten die Forscher jetzt eindrucksvoll experimentell bestätigen.
Extreme Steigerung der Steifigkeit möglich: Die Elastizität (der E-Modul)
und die Dämpfungseigenschaft der Probenkörper wurden über einen großen Temperaturbereich von Raumtemperatur bis 210°C mit
Hilfe der sog. Broadband Viscoelastic Spectroscopy (BVS) gemessen. Dazu verfügt das Micromechanics Laboratory der University of
Wisconsin-Madison über einen speziellen Versuchsaufbau, der die Messung der viskoelastischen Materialkennwerte an den selbst
hergestellten Probenkörpern ermöglichte. "Die Ergebnisse unserer Experimente zeigen, dass während der Phasenumwandlung
der BaTiO3-Partikel die Steifigkeit des Verbundwerkstoffes vorübergehend eine extreme Steigerung auf über 1000 Gigapascal und
damit weit über die Werte der beteiligten Materialien hinaus erfährt", berichtet Dennis Kochmann. Zeitgleich trat eine
Anomalie in der Dämpfungseigenschaft des Verbundwerkstoffes auf. Dazu reichen bereits geringe Mengen von BaTiO3 von zwischen
drei und zehn Prozent am Gesamtgewicht aus, um den im Reinzustand weichen Zinn steifer zu machen als Diamant.
Hoffnung auf handhabbare Anwendung: Zwar ist der extreme Steifigkeitsanstieg
in diesem Fall nur von kurzer Dauer und kompliziert über die Temperatur regelbar. "Hiermit ist aber allgemein die
Möglichkeit nachgewiesen, Verbundwerkstoffe mit einer Phase negativer Steifigkeit herzustellen und dadurch die Steifigkeit
extrem zu steigern", so Dennis Kochmann. Das weckt die Hoffnung, dass negative Steifigkeit in Zukunft auch mit Hilfe
anderer Phasenumwandlungen realisiert werden könnte; so ließen sich z. B. im Fall von magnetisch oder elektrisch induzierbaren
Umwandlungen Werkstoffe herstellen, die ihre Steifigkeit und ihre Dämpfungseigenschaft "auf Knopfdruck" um mehrere
Größenordnungen zu steigern vermögen. So könnten etwa Autofahrwerke ihr Dämpfungsverhalten oder Werkzeuge ihre
Belastbarkeit blitzschnell an extreme Situationen anpassen.
Diplomarbeit: Die Veröffentlichung beruht in Teilen auf den Ergebnissen
der Diplomarbeit von Dennis Kochmann, die er während seines Jahres als Fulbright-Stipendiat an der University of
Wisconsin-Madison angefertigt hat.
Titelaufnahme: T. Jaglinski, D. Kochmann, D. Stone, R. S. Lakes: Composite
Materials with Viscoelastic Stiffness Greater than Diamond. In: Science, 2. Februar 2007, Vol 315, Issue 5812
Quelle im Internet und weitere Informationen unter: www.ruhr-uni-bochum.de
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